Abstract von Aron Ronald Bodenheimer
Soll ein Zukunftsentwurf sich nicht in Schauervisionen wie Untergang des Abendlandes, Happy New World oder 1984 totlaufen, so hilft eine gelassene Betrachtung unserer heutigen Realität dabei, die Richtung unserer Zukunft wo nicht entscheidend zu beeinflussen, da doch in den Fokus unseres Ausblickes zu visieren und so, wenn wir schon auf den Weltlauf nicht einwirken können, uns an ihn zu adaptieren, damit er nicht über uns hinweg geht – damit die Zukunft nicht Weltuntergang heißt. Ansonsten hätten wir festzustellen, dass all die in nostradamisch inspirierten Horrorfilmen prophezeiten Bilder von der großen Apokalypse längst zur Wirklichkeit gehören. Der Weltuntergang findet nämlich statt, heute und vor unseren Augen. Allerdings nicht unter dem Bilde der köstlich-kitzligen Komödien, wie der Bildschirm sie täglich offeriert. Sondern viel tragischer, weil aus dem engen Blickfeld ausgeblendet, welches unsere winzige nordwestliche Region des Globus uns vorhält.
Die Öffentlichkeit sieht Apokalypse als Weltenbrand; denkt dabei an eine Kollision von Mars, Erde, Venus und dergleichen telegene Szenen, die projiziert werden, um uns so übersehen zu lassen, dass sonst allerorten gegenwärtig und gleich auf drei riesigen Kontinenten die Katastrophe, längst eigenaktiv geworden, ständig ihren alles vernichtenden Fortgang nimmt. Und wir schauen nicht hin. Warten stattdessen auf die Invasion von UFOs und überlassen uns anderen infantilen Bildern aus Disneys Küche. So brauchen wir nicht wahrzunehmen, das Armut, Verbrechen, Kriege, Seuchen und Süchte die Welt in Erschütterung, die Völker in Bewegung gebracht haben, stürmisch bis zum Überschwappen, und die nicht ertrinken, wandern zu Myriaden über die Weltoberfläche. Bis an unsere Grenzen. Sie stehen davor, und wir igeln uns ein hinter Stacheldraht. Die so abgesicherten Grenzen, meinen wir, können die Grundwelle der gewaltigen Wanderwelle von uns fernhalten. Wir sehen weg und denken und riechen hinweg, fort von dem, was da geschieht und nehmen den Moderduft nicht wahr, der mittlerweile die große weite Welt erfüllt. – Man kann, wissen wir, ohnedies nichts dagegen tun. Weshalb also sollte man hinsehen, weshalb etwas unternehmen, außer sich schützen vor dem Fremden, das da zu uns strebt?
Dabei böte sich ein Mittel an, um, freilich in bescheidenem Masse, diese Entwicklung zu steuern. Freilich nicht dadurch, dass wir uns gegen sie abschirmen, sondern vielmehr ihr entgegen kommen, woraus wir selbst erst noch gegen alle Erwartung einen ansehnlichen Gewinn, eine Förderung unserer Menschlichkeit erfahren. Das Mittel, verblüffend einfach und in der Erfahrung als wirksam erwiesen, heißt: Zulassung, ja Förderung der großen Bewegung, die da allerorten losgetreten wurde. Und die am genauesten unter dem der Geschichte vertrauten Begriff der Völkerwanderung zu fassen ist. Eine Erschütterung, die sich, umfassender als die Begebnisse, die bisher unter diesem Begriff abgehandelt worden sind, freilich unsere friedvolle Insel Euramerika ausgespart hat.
Um bereit und fähig zu werden, dass wir vermeintlich sicher Festsitzenden diese globale Bewegung zu einem bedeutsamen Teil unseres Lebens und Wesens werden lassen, tun wir gut, einige Reflexionen zu dem Thema anzustellen, welches Völkerwanderung heißt. Ich wüsste keine treffendere Bezeichnung für das, was gegenwärtig geschieht. Der Begriff lässt sich, meine ich, auch vor dem Aspekt rechtfertigen, welchen die Geschichtskunde geläufigerweise mit diesem Namen bedenkt.
Zunächst diese Erwägung: Wandern ist eines von den eher wenigen Phänomenen, die im Wesentlichen unverändert seit vorgeschichtlichen Tagen allem Lebendigen, mithin auch dem Menschen, als immanenter Drang, ja als lebenserweiternde Gewohnheit zu eigen gewesen sind. So lange gewandert wird, erneuern die Völker ihre Lebenskraft und genau so lang strafen sie Fukuyamas These vom Ende der Geschichte Lügen. Nicht nur Seefahren, jegliches Wandern ist notwendig – Wandern, nicht das kultur-zerstörerische Reisen, das hochmütig leutselige Betrachten der Fremden mit ihren merkwürdig anderen archaischen, bestenfalls als folkloristisch sehenswert wahrgenommenen Gebräuchen. Wandern auf dem Pfad des Lebens gilt nicht nur als Metapher, sondern es benennt eine Verrichtung, durch die alleine das Aufnehmen, Adaptieren und Verarbeiten von Neuem, noch Unvertrautem, das Ablagern von Ausgelebtem, die stete, lebenserhaltende Erneuerung des Einzelnen wie des Kollektivs garantiert. Elementar menschlicher Forderung entspricht das Naturrecht des Betreuens von Wandernden. Dies wird bezeugt durch die alte Sitte des gastfreundlichen Aufnehmens von Durchziehenden, welches Grundrecht – als ein unveräußerliches Recht nicht dem Wanderer, sondern seinem Beherberger zugestanden – im Sinne eines der tragenden, durch die Zeiten unverrückbar gebliebenen Fundamentes – die zwei zeitüberdauernden abendländischen Lebensordnungen, die hellenische und die jüdisch-christliche, stützt, heute wie je zuvor. Weder haben Philemon und Baucis, noch Abraham und Sarah ihre Gäste, noch hat Jesus die seinen auf Hautfarbe, Glauben, Herkunft, auf den Anlass zum Antreten ihrer Wanderung oder gar auf die Gültigkeit ihrer Papiere, auch nicht auf die Frage hin geprüft, wie sympathisch sie uns seien, ehe sie die Fremden unter ihr Dach baten. Und jedes Mal hat es ihnen Segen gebracht, dass sie all das nicht taten. – Damit auch uns etwas Vergleichbares gelingt tun wir gut daran, dass wir fürs erste solche gedankenlos immer weiter kolportierten, zunehmend ausgehöhlten Begriffsbilder wie „Heimat“, „Tradition“, „Kultur“ und insgesamt das, was uns unreflektiert als Bereich der unveränderlichen Werte gilt, aus dem Arsenal der Schlagwörter hervor holen und sie neu überdenken. Diese Schwerarbeit kann uns niemand abnehmen und sie wird nur gelingen, wenn wir zulassen, dass das uns Fremde sowie und vor allem das Entfremdete in unsere Betrachtungen mit hinein genommen wird.
„Heimat“: Das Bild wie der Name, beide sind gewachsen aus dem Heimweh. Erst später hat Heimat sich zu jenem eigenständigen Topos entwickelt, der wesenhaft Gefahren in sich trägt, weil er unvermeidbar massenmörderische Fanatismen mobilisiert und zudem, stets unter der Parole, die Heimat zu schützen, rabiate Ausbrüche über deren Grenzen hinaus mobilisiert, die am Ende immer in Annexionsgelüste ausgehen. – Heimat als Ort, an dem ein Kollektiv seit Urzeiten festgewachsen ist, gibt es nicht; hat es nie gegeben. Außer dem Pithekanthropus sind alle Völker ausnahmslos durch Wanderung an den Ort gelangt, den sie jetzt eben besetzt halten. Weshalb es auch nicht ein höheres oder minderes Recht auf irgend ein als Heimat deklariertes Territorium geben kann.
„Tradition“ ist einer von vielen Namen für Gewohnheit. Will sagen: für die Trägheit, die daran hindert, dass das Überkommene dem Fluss der Zeit anvertraut wird und sich durch diesen unablässig kreativ erneuern lässt. Wer nicht selber durch die Zeit wandert, an dem wandert die Zeit vorbei. Nie steigst du zweimal in denselben Fluss.
„Kultur“: Ihre Geschichte hat bewiesen, dass sie immer dann erstarrt und dumpfem Leerlauf verfällt, wenn sie sich nur auf die Quellen beruft, die aus ihrem eigenem gewohnten Raum plätschern. Seit Längerem lehrt uns eine sich zunehmend universalistisch orientierende Ethnologie, in welch bedeutendem Maße Kultur, soll sie lebendig bleiben, aus dem Durchgang neuer, zuvor fremder Elemente lebt. Dabei sind die Ethnologen zu wesentlichen und verblüffenden Erkenntnissen gekommen, die im Vortrag entwickelt werden.
Das bewährteste und sicherste Mittel, mit dem zunächst unvertrauten Prozess des großen Völkerwanderns zurecht zu kommen, ist in dem einfachen Mittel gegeben, dass die Festsitzenden, genau wie weiland Philemon und Baucis, Fremde als ihre geschätzten, geehrten Gäste unter ihr Dach bitten und ihren Tisch mir ihnen teilen. Alsbald werden sie erfahren, dass sie den Fremden größeren Dank schulden als diese ihren Gastgebern.
Dies ist weniger ein Abstract als eine Herausforderung des Referats, in welchem dann mit Fakten zu bezeugen versucht wird, dass die neue Völkerwanderung nicht nur eine historische Notwendigkeit sondern auch eine Chance für unsere Gesellschaft bringt.
Prof. Dr. med. Aron Ronald Bodenheimer