Freitag, den 27. September 2002, 14:30 Uhr
Abstract von Helmwart Hierdeis
I. Angesichts des irreversiblen Charakters der Zeit und des Umstands, dass alles, was existiert, der Zeit unterliegt, ist Wandel an sich etwas Selbstverständliches und die Rede vom Wandel der Gesellschaft ein Gemeinplatz. Die Veränderungen müssen also schon ein irritierendes Ausmaß angenommen haben, wenn sie sich so sehr als Thema aufdrängen, wie das heute der Fall ist.
II. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erregen besondere Aufmerksamkeit die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten von „materieller“ und „immaterieller“ Kultur, also von Naturwissenschaften/ Technik einerseits und Werten/ Institutionen andererseits, dazu Phänomene wie die Tendenz zur Individualisierung, wie fortschreitende Säkularisierung, der Wandel der Geschlechter- und Familienbeziehungen, die wachsende Arbeitslosigkeit, die Zunahme an kultureller Vielfalt, die Überalterung der Gesellschaft, die vertikale Mobilität, die Virtualisierung der Wirklichkeit, …
III. Im Zusammenhang damit werden Verschiebungen im Bereich der Werte diagnostiziert: die Beliebigkeit von Bewertungen habe zugenommen, philosophische oder religiöse Legitimationen seien unbekannt oder würden für unnötig gehalten, die Bindungen an persönliche und institutionelle Autoritäten oder an Werttraditionen sei obsolet geworden. Die Berufung auf zeit- und situationsübergreifende Prinzipien habe einer Orientierung an den Kriterien Funktionalität, Nutzen und subjektive Befriedigung Platz gemacht. Worauf sich die Gesellschaft früher habe verlassen können, nämlich auf die Verankerung ihres Wertesystems in der psychischen Struktur des Einzelnen, funktioniere nicht mehr in erwünschter Weise.
IV. Auch wenn diese Annahmen partiell der zu allen Zeiten und in allen Kulturen beobachtbaren „Generationenklage“ zuzurechnen sind, also der Besorgnis darüber, die Jugend sei nicht bereit und in der Lage, die von den Erwachsenen vertretenen kulturellen Standards zu übernehmen, und sie bedrohe damit den Fortbestand der Gesellschaft, so hebt das die Tatsache eines rapiden gesellschaftlichen Wandels, der auch die Werte berührt, nicht auf, auch nicht das Faktum, dass es der Gesellschaft insgesamt und vielen einzelnen Menschen schwer fällt, auf die Veränderungen angemessen zu reagieren.
V. Damit kommt die Frage ins Spiel, was Bildung in diesem Zusammenhang leisten soll und kann. Die Erwartungen der Aufklärung, über verbindliche Inhalte und institutionalisiertes Lernen ließe sich die soziale Ungleichheit verringern, das kulturelle und produktive Niveau der Menschen insgesamt erhöhen, die Gesellschaft stabilisieren und ihre Entwicklung steuern, waren, wie wir heute wissen, großteils unrealistisch. Die Bemühungen der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts um eine höhere Effizienz der Schule im Hinblick auf die Bewältigung künftiger Lebenssituationen der nachwachsenden Generation waren im Ganzen ebenso wenig erfolgreich, wie sich die Hoffnung erfüllte, das Bildungswesen könne in die Lage versetzt werden, sensibel auf den Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu reagieren. In jüngster Zeit sind Zweifel daran laut geworden, ob das Bildungswesen überhaupt noch in der Lage ist, seinen Auftrag zur Vermittlung eines „Bildungsminimums für alle“ zu erfüllen.
VI. Unbestritten bleibt, zumindest in unserer Tradition, dass Bildung zwei komplementäre Seiten hat: Bildung als institutionalisierte Einführung in die Kultur sowie als Vermittlung von Informationen, Techniken, Qualifikationen und psychischen Dispositionen, die zur subjektiven Lebensführung und für den Bestand der Gesellschaft erforderlich sind, und Bildung als „Selbstbildung“, d. h. als persönliche Auseinandersetzung mit „der Welt“, mit dem Ziel einer reflektierten, urteils- und handlungsfähigen, selbst- und sozialverantwortlichen Persönlichkeit.
VII. Öffentliche Kulturvermittlung und Vorbereitung auf die Gesellschaft einerseits und subjektive Weltaneignung andererseits bedingen sich gegenseitig. Wenn die institutionalisierte Bildung die Jugend dazu befähigen soll, ihr Leben im Rahmen des sozialen Wandels für sich und für die Gesellschaft angemessen zu führen, steht sie vorrangig vor folgenden Aufgaben:
- Einübung in basale Kompetenzen (z. B. zum Verständnis von Texten, mathematischen, natur- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen);
- Bemühung um das „Lernen des Lernens“, d. h. um die Vermittlung von Lernstrategien und um Transferleistungen;
- Wissensvermittlung unter den Aspekten der Systematik, der Vernetzung und der Reflexion über die subjektive und gesellschaftliche Relevanz des Wissens;
- Übung in der Unterscheidung von Wirklichkeitskonstruktionen;
- Entwicklung eines historischen Bewusstseins aus der autobiographischen Perspektive der Jugend;
- Weckung der Bereitschaft zur vorurteilsfreien Begegnung mit den Zeugnissen und Vertretern fremder Kulturen und Befähigung zur interkulturellen Kommunikation;
- Einübung in die verantwortlichen Teilhabe am öffentlichen Leben durch verantwortliche Teilhabe am schulischen Leben;
- Ermutigung zur Auseinandersetzung mit den so genannten letzten Fragen und Angebote zur Selbstfindung.
VIII. Bildung ist als „schlecht definierte Aufgabe“ von Seiten der Institutionen niemals eindeutig und umfassend zu bewältigen. Sie unterliegt zudem subjektiver Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, die ihrerseits im Rahmen der primären Sozialisation grundgelegt werden: durch den Aufbau von Selbstvertrauen und Neugier auf die Welt auf der Basis zuverlässiger, von positiven Gefühlen getragener Beziehungen.