Band XXVI: Rummel, Ritus, Religion

ISG-Schriftenreihe „Praktische Psychologie“ Band XXVI
Herausgegeben von Dieter Korczak und Hartmut Rosenau
Neukirchener Verlag, 2004, ISBN 3-788719-89-3;
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KOMMENTARE:

Die Rolle der Religionen in der westlichen Gesellschaft ist (nach dem 11. Sept. 2001) wieder verstärkt fraglich geworden, ebenso das postmoderne Konzept einer Ästhetisierung der Lebenswelt. Kunst und Religion inmitten der alltäglichen Lebenswelt können nicht mehr ins rein Private zurückgestellt werden. Das ist laut Vorwort die Überzeugung der Herausgeber der Beiträge der 58. Jahrestagung der Interdisziplinären Studiengesellschaft für Praktische Psychologie e.V. im Oktober 2001 in Kiel. Die Gliederung erfolgt gemäß dem alliterativ-plakativen Titel. Vorgeschaltet sind „Philosophische Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Religion“ von Hans-Ulrich Baumgarten (9-21): Der 11. September war wirksam besonders auch durch die „Ästhetik“ der (Fernseh-)Bilder (Karlheinz Stockhausen), – Baumgarten aber warnt: „Wenn Theologie und damit der Glaube sich einer solchen Oberflächenästhetisierung annähern, verlieren sie ihr kritisches Potenzial“ (11). Unter Bezug auf Kant formuliert er: „Ästhetik und Religion sind Weisen der Selbstbesinnung. In dieser Selbstbesinnung erkennt sich der Mensch…“(21). In Teil A wird dann dem Stichwort „Rummel“ nachgegangen. Der Soziologe Dieter Korczak beschreibt Rummel als Mentalität (23-30). Im „Iconic Turn“ überlagert die Wucht der Bilder die Kraft der Worte. Am Symbol des Kreuzes und seiner Verwendung in der Werbung formuliert Korczak: „Geschmacklosigkeit, Tabulosigkeit und Rummelmentalität sind die Schlüsselmerkmale der hochindustrialisierten westlichen Gesellschaften“ (29). Der Beitrag von Christian Thomas „Schwert und Flugzeug – Die Stadt als Ziel des Hasses und Raum der Erinnerung“ (31-34), sieht den Beginn des rituellen Städtemordens nicht erst im New York des 11. Sept., sondern in Sodom und Gomorrha, Hiroshima und Dresden…: „Für das manichäische Weltbild und seine Sehnsucht nach nicht-komplexen Verhältnissen ist vom Städtischen immer schon eine unheimliche Bedrohung ausgegangen“ (32).

In Teil B zu „Ritus“ finden sich folgende Beiträge: Der Kommunikationswissenschaftler Harry Pross begreift unter Bezug auf Montaigne und Lessing Riten als Sozialkitt (35-45): „Riten sind periodisch wiederholte Handlungen unter zeitlich fixierten Bedingungen in bestimmten Räumen“ (35). Sie „unterwerfen subjektive Lebenszeit kollektiven Ordnungen“ (37). Der Religionspädagoge Eckart Gottwald beschreibt anhand schon andernorts veröffentlichter Beispiele aus der (Anzeigen-)Werbung Ritus und Religion in der Werbung: Zur Transformation von Religion in der Lebenswelt (47-68). Werbung als Lifestyle-Religion übernimmt religiöse Funktionen wie Sinndeutung und Sinnstiftung, Identitätssicherung oder soziale Integration. Die Ethnologin Christiane Pantke vergleicht traditionelle Altarkulturen aus dem afroamerikanischen Kontext (Brasilien, Kuba) mit ritualisierter deutscher Alltagskultur (Autowaschanlagen, Fernsehecke etc.) und plädiert für eine Differenzierung: „Der Begriff des Rituals umfasst religiöse Bräuche und beschreibt religiöse Handlungen, die einem festgeschriebenen tradierten Regelwerk unterliegen. Sein inflationärer Gebrauch, die Übertragung auf repetitive Alltagshandlungen, macht den Begriff nichtssagend. Von ritualisierter Alltagskultur kann gesprochen werden, wenn repetitive Handlungen mit religiösen Konnotationen versetzt werden. Ritualisierte Kommunikation wäre dementsprechend eine Kommunikation, die mit Symbolik aus der transzendenten Ebene angereichert wird“ (82). „Schön, selbstbewusst, ästhetisch: Über die rituelle Bedeutung von Haaren“ (87-94) – Wem (als Rezensent) langsam die Haare verloren gehen, der wird diesen kulturgeschichtlichen Abriss von Dieter Korczak von der Lorelei über Samson und Delihah bis Hair mit Amusement und Interesse lesen: „Haare ab!“ ist schon immer der Befehl der Macht gewesen“ (88) – und wir erkennen leider diese ungebrochene Poetik des Haares erschreckt wieder: vom gefangenen Saddam Hussein bis Guantanamo Bay.

In Teil C geht es dann zur „Religion“: Der katholische Didaktiker Waldemar Molinski skizziert den alten Streit Bildersturm und Bilderverehrung. Die Bedeutung des zweiten Gebotes im Medienrummel (95-115) mit dem „Ergebnis: Berechtigte Bilderverehrung unter Wahrung des Fremdgötter- und Götzenverbotes“ (114). Der Kieler systematische Theologe Hartmut Rosenau beschäftigt sich unter dem Titel Sakraltourismus und Geomantik. Zur Attraktivität von Mystik, Magie und Esoterik (117-129) mit einem schillernden religiösen Phänomen der Gegenwart; denn Pilgerreisen zu Heiligen Stätten haben Konjunktur. Der Rabbiner Natahn Peter Levinson schließlich erläutert jüdische Speisevorschriften unter der Überschrift „Der Mensch ist, was er isst“ (131-135) und nimmt so das Triviale, das Alltägliche hinein in das Göttliche.

Insgesamt eine interessante Tagungsdokumentation, die gerade in ihrer Unabgeschlossenheit, ihrer Divergenz, ihrem Eklektizismus und ihrer Multiperspektivität anregend wirken kann.

Gerd Buschmann
International Journal of Practical Theology, Vol. 9, pp. 157-158, de Gruyter 2005