Neises: Besonderheiten der gynäkologisch-geburtshilflichen Behandlung türkischer Migrantinnen

65. Jahrestagung der Interdisziplinären Studiengesellschaft, ISG e.V.,
03. – 05.10.2008, Bonn – ‚Toleranz – Begegnung der Kulturen’

Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Mechthild Neises
Medizinische Hochschule Hannover
Funktionsbereich Psychosomatische Frauenheilkunde

Zur Betrachtung der Versorgungssituation gynäkologisch und geburtshilflich erkrankter türkischer Patientinnen ist ein genaueres Wissen zum Migrationshintergrund und zur Akulturation dieser Frauen erforderlich. Einflussfaktoren auf die Gesundheit allgemein sind z. B. die soziale Ungleichheit auch innerhalb einer Migrantinnengruppe neben den klassischen soziodemografischen Parametern wie Bildungsstand und Sozialstatus. Wichtige Aspekte sind außerdem der Grad der Integration in die deutsche Aufnahmegesellschaft, die Kenntnisse der deutschen Sprache und schließlich die individuelle Betrachtung. Da der fast 40 Jahre anhaltende Zuwanderungs- und Niederlassungsprozess in Deutschland zu individuell sehr unterschiedlich verlaufenen Biografien führt, sowohl aufgrund der Migrationsgründe, als auch aufgrund des Alters bei der Einreise oder die Aufenthaltsdauer in Deutschland.

Die ausländische Frau ist häufig einer Mehrfachbelastung ausgesetzt durch Berufstätigkeit, Haushalt und Kindererziehung. Nicht selten leben die Familien in schlechteren Wohngegenden, sind stärker von Arbeitslosigkeit bedroht, und bei Abschiebung droht das Auseinanderreißen der Familie, oder sie kann durch Nachzugsperre erst gar nicht zusammenfinden. Eine Situation, die krank machen kann. Hinsichtlich des Krankheitsspektrums bahnt sich ein Wandel an. Während in der ersten Generation mehr psychische Krankheitsbilder berichtet wurden wie Entwurzelungs-, Depression und Heimwehreaktionen, zeigen sich jetzt stärker psychosomatische Krankheitsbilder wie chronische Unterleibsschmerzen, allgemeine Schmerzsyndrome und Schwangerschaftsbeschwerden. Einer besonderen Belastungssituation sind die jugendlichen Mädchen ausgesetzt, da sie häufig zwischen zwei Kulturen stehen. Viele sind bereits hier geboren und sind in ihrem Alltag den Normen zweier Kulturen ausgesetzt. Oft erfahren sie im Elternhaus eine intensive Hinwendung zu islamischen Werten, was zu einer einschränkenden Erziehung führt. In dieser Konfliktsituation kommt es bei Jugendlichen häufig zu depressiven Reaktionen. Zu beachten ist auch das kontrazeptive Verhalten, da oft die Pille oder Spirale grundsätzlich abgelehnt werden. Gleichzeitig lässt sich ein allgemeiner Informationsmangel feststellen, über die Funktion der Genitalorgane und der Sexualität, so dass auch die Frage einer regelmäßigen Kontrazeption von untergeordneter Bedeutung ist. Im Rahmen der Schwangerschaft und Geburt bei oft höherer Kinderzahl der Ausländerinnen sind gesundheitliche Probleme häufig zu beobachten. Die Nutzung der Schwangerenüberwachung ist bei Migrantinnen nicht so ausgeprägt wie bei den deutschen Frauen. So werden Basisuntersuchungen nicht selten unvollständig durchgeführt und diagnostische Zusatzmaßnahmen seltener veranlasst. Psychosomatische Erkrankungen in der Schwangerschaft, wie z. B. unklare Schmerzzustände, werden häufiger beobachtet. Unter Beachtung von Perinataldaten scheint die Charakterisierung, dass der Migrationshintergrund ein Risikofaktor ist, immer noch zuzutreffen. Dies zeigt sich besonders an dem schlechteren kindlichen Zustand unmittelbar nach der Geburt. Hinweise auf Unterschiede in der Versorgungsqualität geben die unterschiedlichen Raten von geplanten Kaiserschnitten sowie die niedrigere Rate von Periduralanästhesien zur Schmerzausschaltung unter der Geburt bei Migrantinnen. Ein Beispiel für weiterhin notwendig prophylaktische Maßnahmen ist die hohe Anämierate bei den Schwangeren mit Migrationshintergrund.

Die Verständigungsschwierigkeiten in der Arzt/Ärztin-Patientinnen-Beziehung sind ein wesentliches Merkmal für die Unzulänglichkeit in der Interaktion. Häufig bedeutet für Migrantinnen der Besuch des Arztes nicht nur ein Schritt in eine andere Kultur, sondern auch in eine andere soziale Schicht. Diese Schwellenangst ist in der Kontaktaufnahme häufig festzustellen. Ist allerdings eine Beziehung aufgebaut, finden in der Regel weniger Arztwechsel statt als bei deutschen Patientinnen. Hinderungsprobleme ergeben sich auch aus der kulturellen Bewertung von Krankheit, diese wird weniger einzelnen Organen zugeordnet, und darum werden einzelne Krankheitssymptome anders gewertet, was unsere Vorstellungen von Krankheit kontrastiert. In der Zuwendung zum Arzt werden auf der einen Seite fast magische Erwartungen deutlich, auf der anderen Seite führt eine religiös geprägte Einstellung auch dazu, dass Krankheit und Gesundheit als von Gott gegeben hingenommen werden. In der subjektiven Krankheitstheorie wird Körperliches und Seelisches weniger getrennt erlebt. Vor diesem Hintergrund spielt die körperliche Untersuchung eine große Rolle. Das Anfassen und Berühren ist dabei wichtiger, als eine abstrakte Erklärung mit Worten. So äußerte eine Patientin ihre Kritik an einem Arzt: „Er hat nicht angefasst, er hat es nicht richtig gemacht“. Bei dieser Einstellung ist die Vertrauensbildung in der Arzt-Patientin-Beziehung erst möglich über das Handeln. In ähnlicher Weise bilden sich Probleme beim Arzt/bei der Ärztin ab, verglichen mit anderen Patientinnen sind Kontakte kürzer, dabei wird die Dauer des Gesprächs vom Arzt bestimmt. Das Sprachproblem kann von Seiten des Arztes dazu führen, dass er selbst ein gebrochenes Deutsch benutzt, laut spricht und ein unangemessenes Du benutzt. Die Krankheitsvorstellung vor dem Hintergrund einer anderen Kultur bleibt vielen Ärzten fremd, was die Kommunikationsbarriere verstärkt. Gerade bei psychosomatischen Erkrankungen in der Frauenheilkunde, wo die Sprache das wichtigste diagnostische Instrument ist, kann es zur Flucht in technische Diagnostik führen, oder es wird ein Medikament nach dem anderen ausprobiert im Sinne einer Polypragmasie. Am Ende dieser Spirale kann die Flucht in die Krankschreibung stehen, oder auch die Bereitschaft, eine Patientin als Simulantin zu etikettieren.

Ansätze zur Verbesserung der frauenärztlichen Versorgung von türkischen Frauen liegen auf Seiten des Arztes im Erwerb von Basisinformationen über den soziokulturellen Hintergrund der Frau und ihrer Familie. Das System von Familie, mit dem die Frau zum Arztbesuch kommt, sollte angenommen werden, insbesondere die Ausgrenzung des Partners sollte vermieden werden. Der Arzt sollte sich informieren z. B. über das kontrazeptive Verhalten im Ursprungsland und die Einstellung der Frau und auch des Partners dazu. Die subjektive Krankheitstheorie der Patientin zu explorieren, ist generell wichtig und gilt besonders für Migrantinnen. Für die Behandlung sollten praktikable zweisprachige Übersetzungshilfen in Klinik und Praxis
zur Anwendung kommen. Diese liegt z. B. für Paare in türkischer Sprache vor, die eine Behandlung zur In-vitro-Fertilisation aufnehmen. Generell zu fordern wären ortsnahe medizinische und pädagogische Gesundheitsaufklärung für Frauen und Mädchen und stadtteilbezogene Arbeit von Beratungsstellen.