Professor Völkel zum 90. Geburtstag

Christel Böhme-Bloem

Vor mehr als 50 Jahren (1954) kam Prof. Dr. Henner Völkel nach Kiel. Schleswig-Holstein und seine Person sind seither im Bereich der Psychotherapie nicht mehr voneinander zu trennen.

Henner Völkel wurde als jüngstes von sechs Kindern am 23. Juli 1916 in Duisburg geboren; er durchlief in dieser Großfamilie seine soziale Prägung, einen „Grundkurs in sozialer Anpassung und Gruppenintegration“ wie er selbst schmunzelnd beschreibt. Schon früh entwickelte er eine auffallende sprachliche Kompetenz gepaart mit reicher Fantasie. So erinnert er sich, im Alter von sechs Jahren als fröhlich fabulierender Erzähler robustere Altersgenossen durch frei erfundene Geschichten als Freunde und Beschützer gewonnen zu haben.

Nach dem Abitur studierte er in Köln, Berlin, Düsseldorf und Bonn Medizin, unterbrach das Studium 1936 für ein halbes Jahr zur Ableistung des Arbeitsdienstes und legte 1940 – noch nicht 24-jährig – in Bonn das medizinische Staatsexamen ab. Im gleichen Jahr wurde er Soldat und kam nach einer Ausbildung zum Panzerschützen zur Sanitätstruppe. Im Herbst 1942 promovierte er während eines Fronturlaubs.

Vom Beginn des Russlandfeldzuges an war er als Truppenarzt eingesetzt und geriet 1943 in Stalingrad in Gefangenschaft. Seine autodidaktisch erworbenen Russischkenntnisse trugen entscheidend dazu bei, die schwierigen Bedingungen der Gefangenschaft wohlbehalten zu überleben. Schon während des Russlandfeldzuges entwickelte er eine große Liebe zu den russischen Menschen, ihrer Sprache und Kultur, sodass für ihn das Zusammensein mit russischen Kollegen stets eine besondere Freude darstellte, wie es z. B. möglich war bei der „First Baltic Sea Conference on Psychosomatics and Psychotherapy“ 1992 und auf späteren Reisen nach Moskau, Minsk, St. Petersburg und in den Kaukasus.

Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft 1948 arbeitete er bis 1950 als chirurgischer Assistent in Duisburg und begann seine Facharztweiterbildung zunächst in Bonn, dann ab 1952 an der Abteilung für psychische und Nervenkrankheiten der Medizinischen Akademie in Düsseldorf als Assistent bei G. E. Störring, mit dem er 1954 nach Kiel überwechselte.

Im Sommersemester 1956 hielt er erstmals eine psychotherapeutische Vorlesung, die zwar als „Einführung in die medizinische Psychologie“ angekündigt wurde, in Wirklichkeit aber eine Vorlesung über psychoanalytisch orientierte Psychotherapie war. Diese Vorlesung war fast über 30 Jahre ein „Publikumsmagnet“. Die Älteren unter den schleswig-holsteinischen Medizinern werden sich erinnern, dass man zur „Völkel-Vorlesung“ früh kommen musste, um wenigstens einen Stehplatz zu ergattern. Wegen ihrer mitreißenden Lebendigkeit und didaktischen Brillanz wurde die Vorlesung von der studentischen Selbstverwaltung in den siebziger und achtziger Jahren mehrfach mit der damals üblichen Auszeichnung „Goldapfel“ gewürdigt.

1958 habilitierte sich Henner Völkel mit einer Arbeit über die Psychopathologie der neurotischen Depression. Anfang der sechziger Jahre absolvierte er bei dem Hamburger Psychoanalytiker Prof. Scheunert eine Lehranalyse über fast 500 Stunden. Viermal pro Woche fuhr er dazu nach Hamburg und das zu einer Zeit, in der es weder eine Autobahn noch einen ICE gab. 1964 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt, im gleichen Jahr zum „Wissenschaftlichen Rat und Professor für medizinische Psychologie und Psychotherapie“. Bis zur Einrichtung einer eigenständigen Abteilung für medizinische Psychologie gehörte auch dieser Unterricht zu seinen Lehrverpflichtungen.

1967 wurde die Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik unter seiner Leitung eingerichtet. Die knappe Personalausstattung mit nur zwei Mitarbeitern ließ nur wenig Raum für wissenschaftliche Arbeit neben Lehrverpflichtungen, ambulanter und stationärer Krankenversorgung und Konsiliartätigkeit. Immerhin wurde ein eigenes stationäres Psychotherapiekonzept mit Indikationskriterien und einer klar definierten Nachbehandlung entwickelt.

In weiterer enger Verbindung zur Psychiatrie publizierte Henner Völkel mit G. E. Störring Arbeiten zur Psychopathologie der Psychosen. Sein besonderes Interesse galt der Integration herkömmlicher psychiatrischer Konzepte mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie. Sein breit gefächertes Arbeits- und Forschungsgebiet umfasste so unterschiedliche Bereiche wie Suchtprobleme, psychosomatische Aspekte bei Störungen der Atmungsorgane und des Herz-Kreislaufsystems, Fragestellungen der Wahrnehmungspathologie, Probleme der Geschlechtsrollenfindung und psychodiagnostische Themen. 1982 habilitierte er Dr. Dr. Stephan Ahrens im Fach Psychosomatik.

Seine besondere Spezialität war die „heimliche“ Doktorvater- und Autorenschaft. Insider wissen, bei wie vielen Arbeiten und Vorträgen von Kollegen, nicht zuletzt von G. E. Störring, der das freimütig bekannte, ein „ghostwriter“ Völkel Pate stand.

Bereits 1961 organisierte er erste Fortbildungsseminare für Ärzte(innen), die als Basis in die psychotherapeutische Weiterbildung der Ärztekammer Schleswig-Holstein eingingen. Der berufsbegleitenden Fort- und Weiterbildung gilt sein Interesse seit einem halben Jahrhundert. Er war Mitbegründer und lange Zeit im Vorstand des Instituts für Psychotherapie und Psychosomatik der Akademie der Ärztekammer, ebenfalls war er 1972 Mitbegründer der Norddeutschen Psychotherapietage in Lübeck, bei denen er bis 1998 allmorgendlich eine fortlaufende Vorlesung abhielt, die einen wesentlichen Bestandteil dieser zweitgrößten Fortbildungsveranstaltung im deutschsprachigen Raum darstellte.

Henner Völkel war gleichfalls Gründungsmitglied des 1989 gegründeten John-Rittmeister-Institutes in Kiel, eines psychotherapeutischen (später auch psychoanalytischen) Aus -und Weiterbildungsinstitutes für Ärzte und Psychologen. Bis in die Gegenwart ist er diesem Institut als Dozent und Supervisor verbunden.

Für seine Verdienste um die ärztliche Fort- und Weiterbildung wurde Henner Völkel 1981 von der Bundesärztekammer mit der Ernst-von-Bergmann-Plakette ausgezeichnet. Sein soziales Engagement, insbesondere die Betreuung Suchtkranker in der Guttempler Organisation, wurde 1985 durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes gewürdigt.

Nach der Emeritierung von G. E. Störring wurde die Abteilung (und spätere Klinik) für Psychotherapie und Psychosomatik verwaltungsmäßig selbstständig. Auch nach seiner Pensionierung 1981 stand Henner Völkel bis zum Amtsantritt von Hubert Speidel im Jahre 1983 der Klinik als Direktor vor. Er sah sich stets als aktiver Kämpfer für die Etablierung der Tiefenpsychologie als grundlegende Methode, blieb aber, wie er selbst betonte, anderen theoretischen Richtungen gegenüber immer offen.

Auch heute, 25 Jahre nach seiner Pensionierung, sind Henner Völkels berufliche Aktivitäten immer noch beachtlich. Nach wie vor ist er viel gefragter Referent und Seminarleiter auf psychotherapeutischen Veranstaltungen; und unverändert gilt sein Interesse der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Psychologen und nicht zuletzt seinen vielen Patienten(innen).

In den letzten Jahren ist Henner Völkel häufig zu Gast auf der beschaulichen dänischen Insel Fanö, wo er im Haus eines Freundes hervorragende Bedingungen gefunden hat für fruchtbare Arbeit und eine kontemplative Rückbesinnung auf dieses reiche erfüllte Leben.

So bleibt zum Schluss dem Jubilar zu wünschen, dass ihm Lebendigkeit und Spannkraft, Elan und Gesundheit zu seinem Wohl und zur Freude aller noch lange erhalten bleiben mögen.

Dr. Christel Böhme-Bloem, Düppelstr. 57, 24105 Kiel